Kraft tanken
Seit 19 Jahren ist die Angst mein fast ständiger Begleiter. Wie es ohne sie war – daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Die guten Tage überwiegen in den letzten Jahren eindeutig. Trotzdem gibt es immer wieder kurze Augenblicke, in denen mich eine kurze Panikattacke erfasst.
Ich stehe an der Ampel. Warten ist etwas, was die Angst liebt. Warten macht mich ungeduldig. Das weiß die Angst und deshalb sucht sie sich gerne solche Momente aus. Über die Ampel muss ich rüber, wenn ich nach Hause möchte. Ich könnte einen Umweg machen. Ich könnte mit dem Bus eine Haltestelle weiter fahren, sofern der Bus nicht rechts abbiegt. Oder ich steige eine Haltestelle früher aus und gehe über eine andere Ampel. Die Straße bleibt die selbe. Doch wenn ich vom Supermarkt komme oder dorthin gehe, muss ich auch über diese eine Ampel. Es dauert etwa zehn Sekunden, bis die Fußgängerampel auf Grün springt.
Andere Ampel, Innenstadt. Gegenüber steht ein Bus, den ich nehmen kann. Es wird grün für mich als Fußgänger. Blind renne ich rüber. Die Angst ist hinter mir. Nur kurz. Dann ist sie wieder verschwunden.
Ich sitze in einer Vorlesung. Die Veranstaltung ist nicht verpflichtend für mich, dennoch habe ich mich angemeldet, da das Thema interessant ist. Der erste Tag nach der vorlesungsfreien Zeit. Der nicht allzu große Hörsaal ist voll. Ich sitze mehr oder weniger in der Mitte einer Reihe ziemlich weit oben. Um mich herum kenne ich niemanden. Kann mich mit niemandem unterhalten, austauschen. Vor mir steht mein Laptop. Hätte ich doch Stifte und Papier dabei. Kritzeln hilft manchmal. Panik erfasst mich. Die Luft ist stickig. Überall Menschen. Ich habe eine Flasche Wasser dabei. Wasser trinken ist auch etwas, was ich mir angewöhnt habe, um meiner aufkommenden Panik zu entkommen. Trinken und Bonbons lutschen.
Ganz am Anfang meiner Panikattacken wollte ich immer raus. Ich saß im Unterricht, konnte mich nicht mehr konzentrieren, wurde unruhig. Manchmal wollte ich mich ans geöffnete Fenster setzen, manchmal aber auch einfach nur weg.
Es ist schon lange her, dass ich vor Panik einen Raum verlassen habe. Bis zu der Vorlesung im April.
Danach bin ich nicht wieder zu der Vorlesung gegangen.
In den letzten Monaten, eigentlich seit dem Herbst, habe ich mich manchem entzogen. Redaktionssitzung, Schreibtreffen – und dann dieser Vorlesungsreihe. Den Treffen habe ich immer abgesagt. Ich habe mich irgendwie unbewusst zurück gezogen. Ich habe gearbeitet, zuhause gesessen, prokrastiniert, gelesen. Dann begann mein Praktikum, abends war ich zu erschöpft für irgendwelche Treffen.
In diesem Monat habe ich mich bereits dreimal mit anderen getroffen. Ich war beim Schreibtreffen und habe festgestellt, wie sehr mir die Menschen gefehlt haben. Ich habe das Campus Festival besucht und habe außerdem eine Freundin aus der Schulzeit getroffen. Alles ohne Panikattacken. Außer an der Ampel. Um mich abzulenken, tippe ich auf meinem Handy rum, schreibe meinem Freund eine kurze Nachricht. Sollen die Autofahrer und Fußgänger doch denken, dass ich wie eine typische Handysüchtige bin. In dem Moment bin ich froh, dass es Smartphones gibt.
Das viele Prokrastinieren hat mich träge gemacht. Mir fehlt die Kraft, mich längere Zeit auf das Essay, was ich schreiben muss, zu konzentrieren. Ich müsste außerdem noch ein paar Zertifikate abholen. Die kleine Auszeit am Meer hat zwar gutgetan, aber ich sehne mich nach mehr. Nicht mehr Meer. Mehr sehen. Neues sehen. Neues entdecken. Einfach mal Pause machen.
Comments ()