Rezension: Befreit von Tara Westover

Rezension: Befreit von Tara Westover

Wo fange ich an? “Befreit” ist keine leichte Lektüre. Tara Westovers Kindheit war nicht leicht. Aufgewachsen in einer Mormonen-Familie mit einem Vater, der plötzlich glaubte, die Regierung sei böse und das Ende nah. Er glaubt an Illuminaten, fing bereits früh an, Lebensmittel und Waffen zu bunkern (die Menschen, die sich für den Katastrophenfall so ausrüsten, werden Prepper genannt). Die Mutter, eine selbsterlernte Heilerin und Kräuterkundige, war zu Beginn Hebamme. Arztbesuche sind verpönt. Medizinische Versorgung wird quasi als Werk Satans abgetan. Geburtsurkunden für die Kinder gab es zunächst nicht, denn wenn die Kinder nicht auf dem Papier existieren, kann die Regierung sie nicht finden. Die älteren der sieben Kinder (fünf Jungen und zwei Mädchen, darunter Tara) gingen zunächst zur Schule. Doch ein Ereignis Anfang der 1990er Jahre ließ den Vater umdenken. Ruby Ridge war der Beginn seines Wahns. Ich musste den Begriff “Ruby Ridge” erst mal googeln, denn ich konnte damit nichts anfangen. Vielleicht hat man damals in Deutschland darüber berichtet, aber ich war erst sieben. 

Homeschooling

Statt zur Schule zu gehen, wurden die Kinder mehr oder weniger zu Hause unterrichtet. Der Unterricht beinhaltete Kräuterkunde, Aushelfen auf dem Schrottplatz des Vaters (was nicht ungefährlich war. Dass es keine tödlichen Unfälle gegeben hat, grenzt an ein Wunder – vor allem ohne vernünftige medizinische Versorgung und Impfungen!). Alles, was die Geschichte der USA oder der ganzen Welt betrifft, wurde den Kindern durch Bücher beigebracht, die Propaganda waren, Dinge verheimlichten oder gar verharmlosten. Tara wusste mit 17 Jahren nicht, was der Holocaust war. Sie hatte davon gehört, aber das Ausmaß war ihr unbekannt. Sie wusste so viel nicht, weil ihr Vater dem Wahn verfallen war, dass die Regierung böses wollte und sie sich schützen mussten. 

Homeschooling oder Heimunterricht ist für mich unvorstellbar. In Deutschland ist es verboten. Man hört schon mal in den Nachrichten, dass streng religiöse Eltern auch hierzulande ihre Kinder nicht auf eine Schule schicken möchten. Einen ausführlichen Artikel zum Thema Homeschooling in Deutschland habe ich bei correctiv gefunden

Lernen verboten

Irgendwann erfährt Tara gar keine Bildung mehr. Ihr Vater hält sie vom Lernen ab, sie muss auf dem Schrottplatz aushelfen, gefährliche Arbeiten verrichten. Verletzt sich jemand, kümmert sich die Mutter darum. Gott wird es schon richten. Selbsthergestellte Tinkturen, Muskeltests und andere esoterische Hilfsmittel sind ihre Medizin. Egal ob Verbrennungen dritten Grades, Kopfverletzungen oder sonstigem. 

Dass bestimmte Kräuter eine gewisse Wirkung haben, streite ich nicht ab. In meiner Ausbildung musste ich diverse Teedrogen auswendig lernen. Ernsthafte Krankheiten und Verletzungen aber nur mittels Kräutern heilen zu wollen, Arztbesuche und aus einer Idee heraus Impfungen zu verweigern, ist Körperverletzung. Wie die Familie, sollte es sich wirklich wie in der Biografie dargestellt zugetragen haben, diese ganzen Verletzungen trotzdem überlebt hat, ist mir ein Rätsel. Es mag sein, dass Glaube Berge versetzt. Aber Glaube schützt nicht vor Tetanus. 

Irgendwann widersetzt Tara sich und beginnt zu lernen, um an der BYU, einer von der mormonischen Kirche geführten Uni in Utah, studieren zu können. Zwischendurch erfährt sie immer wieder Missbrauch durch einen ihrer Brüder. Auf Hilfe der Eltern kann sie nicht hoffen. Bald glauben sie, ihre Tochter sei besessen. 

Türen stehen offen

Taras Weg ist sehr steinig. Immer wieder zweifelt sie an sich, an ihren Erinnerungen. Ist es alles ihre Schuld, dass ihr Bruder sie so behandelt hat? Sollte sie zum Glauben zurückkehren? 

Doch letztlich verliert sie ihre Familie, gewinnt jedoch an Bildung. Sie geht von der BYU dank eines Stipendiums nach Cambridge und studiert eine Weile in Harvard. Mittlerweile ist sie promovierte Historikerin. Sie hat ihre Wissenslücken durch jahrelanges Studium gestopft. 

Die Biografie enthält zum Teil Pseudonyme für die meisten vorkommenen Personen, doch durch einfache Recherche findet man recht schnell ihre Familie. Auf Google Maps habe ich die Farm ihrer Eltern entdeckt, denn ihre Mutter hat eine anscheinend gutlaufende Firma für alternative Medizin aufgebaut. 

Was ist die Wahrheit?

Auf Goodreads finde ich viele Rezensenten und Leser, die Zweifel am Wahrheitsgehalt der Biografie haben. Auf Fotos sähe der Vater gar nicht verbrannt im Gesicht aus, so wie Tara es schildert. Eine andere behauptet, ihre Cousine sei mit einem der Brüder verheiratet und er würde die Begebenheiten dementieren. Sie kenne auch den Berg, den Tara beschreibt, den Buck’s Peak, auch “Princess” genannt. Im Buch sähe der Berg aus wie ein ganzer Körper, in Wahrheit aber nur wie ein Kopf. Das veranlasst die Leserin dazu zu fragen, womit Tara noch gelogen hat, wenn sie über so etwas Offensichtliches schon lügt. Ich würde es nicht als lügen bezeichnen, wenn man die Form eines Berges anders beschreibt. Vielleicht wurde die Form auch mit Absicht durch das Lektorat verändert. Vielleicht hat Tara den Berg als Körper gesehen. 

Viele diskutieren das Buch auf auf reddit. In einer Diskussion geht es zum Beispiel um die Verbrennungen des Vaters und die Farm, die auf Google Maps leicht zu finden ist. Wenn ihr bei Google nach reddit und Tara Westover sucht, findet ihr noch mehr.

Was die Wahrheit betrifft, so wird sie nur Tara kennen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es Menschen wie ihren Vater gibt. Man braucht sich nur mal auf Facebook-Seiten die “Der goldene Aluhut” anzuschauen, auf der Screenshots von Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern geteilt werden. Anscheinend sind aber nicht alle Mormonen so krass wie Taras Vater. Bei einem Thema zum Mormonentum auf Reddit klärt ein Aussteiger auf. 

Das Thema Tara Westover ist ziemlich kontrovers, wenn man sich die vielen Kommentare auf Amazon.com, Reddit und Goodreads anschaut. Abgesehen davon, finde ich das Buch gut geschrieben (ich kann hier leider nur von der deutschen Übersetzung sprechen, da ich das Buch vom Verlag erhalten habe. Hätte ich es selbst gekauft, hätte ich das Original gewählt). Ob wir noch mehr von Tara hören werden? Ich hoffe es sehr. 

Interview mit Tara Westover beim Tagesspiegel, dem Guardian und auf PBS (beides englisch).

Rezension zu “Befreit” bei anderen

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