Story A Day: Tag 1 – Geistermenschen
Durch einen Discord-Server bin ich auf die Seite “Story A Day” aufmerksam geworden. Dort gibt es im Mai und September jeden Tag ein Writing Prompt. Ziel ist es, jeden Tag in dem Monat eine Kurzgeschichte zu dem Prompt zu verfassen.
Der erste Prompt lautet:
Jennifer Smith was never quite sure of the time at which she actually disappeared. She had been aware for some time that she was fading a little, but only in the last twelve months or so had she become increasingly conscious of those flickering intervals, like a television with a failing tube, or a radio on the verge of losing its signal.
Joanne Harris
Meine Interpretation des Writing Prompts
Es hatte schon vor einiger Zeit begonnen, aber so richtig bewusst wurde sich Jennifer Smith, dass sie verblasste vor etwa einem Jahr. Das geschah immer nur für einen Moment, ein leises Flimmern wie ein alter Fernseher oder ein Radio, der kurz davor war, das Signal zu verlieren. Mit der Zeit wurde es immer häufiger. Die Menschen um sie herum nahm sie dann wie durch Watte wahr. Ihre Füße hoben sich für ein paar Millimeter vom Boden ab und sie schwebte einen Augenblick.
Kaum jemand in ihrer Umgebung schenkte dem Ganzen Beachtung, aber daran war Jennifer gewöhnt. Als kleines Kind schon hat ihre Mutter sie immer abgeschoben, zu ihrer Großmutter, die auf einer kleinen Insel zwischen Schottland und Nordirland lebte. Dort hatte sie Geschichten von Geistern und Menschen, die zu Geistern wurden gehört. Ihre Großmutter erzählte ihr jeden Abend eine solche Geschichte. Sie wurden von Generation zu Generation überliefert, niemand kannte ihren Ursprung. Auch Jennifers Mutter war mit diesen Gruselgeschichten, wie sie sie nannte, aufgewachsen. Großmutter beharrte darauf, dass jede Geschichte wahr war, ihre Tochter jedoch glaubte nicht daran und sobald sie alt genug war, verließ sie die Insel und ihre Heimat.
Jennifer aber wusste, dass die Geschichten nicht gelogen waren. Es gab tatsächlich Menschen, die sich in Geister verwandelten. Ihre Großmutter hatte ihr einmal erzählt, dass ihre eigene Mutter einer geworden war. Bei manchen geschah dies in jungen Jahren, andere verblassten erst, wenn ihre Periode das letzte Mal eingesetzt hatte. Was der Auslöser war, konnte niemand sagen.
Und nun sollte Jennifer verschwinden und als Geist durch die Welt ziehen. Sie wusste nicht, was das bedeutete oder ob sie jemals wieder sichtbar sein würde für andere. Denn auch diese Frage konnte ihr niemand beantworten. Es schien ihr allerdings, als lägen zumindest ein paar Antworten auf jener Insel, auf der ihre Großmutter gelebt hatte.
Ihr flackerndes Selbst machte sich auf die Reise zu der Insel. Es gab nur ein kleines Boot, was dorthin übersetzte und das legte schon am frühen Morgen ab. Ein Sturm war gemeldet und Regen tropfte auf Jennifer, als sie auf die Anlegestelle zutrat. Der Himmel war bleifarben und die Wolken hingen schwer über ihr. Sie konnte ihre Last förmlich spüren.
Der Bootsmann wollte gerade ablegen, als Jennifer auf das Boot sprang. Erschrocken schaute der Mann auf. Sein Gesicht war vom Wetter gegerbt. Der Wind drohte, seine Mütze von seinem langen, grauen Haar zu wehen, doch er hielt sie fest.
Er wusste, was sie war. Er hatte von diesen Geistermenschen gehört, schließlich hatte er sein Leben lang in der Nähe der Insel gelebt. Man erzählte sich auch an Land die Geschichten und so manche Leute sagten, dass sie schon Geistermenschen gesehen hatten. Dass sie flimmerten und flackerten und blasser und blasser wurden und dann, irgendwann, man wusste nicht, warum, ganz verschwanden.
Die Frau, die nun stumm in seinem Boot saß, war kaum zu erkennen unter ihrem gelben Regenmantel, der dunklen Hose und schweren Stiefeln. Er spürte ihre Anwesenheit mehr, als er sie sah.
„Ich will zur Insel,“ sagte eine sanfte Stimme aus Richtung der Kapuze, die die Frau über den verblassten Kopf gezogen hatte. Der Sturm wurde heftiger und die Wellen höher. Der Bootsmann sollte eigentlich warten, bis die See sich beruhigt hatte. Doch irgendwas im Blick der Geisterfrau, in ihrer Erscheinung, ließ ihn losfahren.
Bis zur Insel waren es nur ein paar Minuten. Er kannte den Weg im Schlaf, ebenso kannte er das Meer. Doch die Wellen tobten nun um das kleine Fischerboot und füllten es mit Wasser. Es schaukelte und der scharfe Wind peitschte um sein Gesicht. Die Frau jedoch saß regungslos da und starrte geradeaus, zur Insel. Schemenhaft konnte er dort Schatten erkennen, doch er war sich nicht sicher, ob das nur Einbildung war.
Eine heftige Welle erfasste plötzlich das Boot und kippte es um. Kreischend flog der Mann ins eiskalte Wasser. Er strampelte und kraulte und versuchte, das Boot mit den Händen zu fassen. Doch er trieb immer weiter auf das Meer hinaus. Panisch schaute er sich um. Die Frau war nirgendwo zu sehen. War sie nur ein Streich seiner Fantasie gewesen?
Kraftlos trieb er weiter und weiter.
Was haltet ihr von meiner Kurzgeschichte? Sollte ich sowas in Zukunft häufiger veröffentlichen?
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